Lebensmittel: eine Verteidigung

Ich lese gerade die englischsprachige Ausgabe des Buches Lebensmittel: Eine Verteidigung gegen die industrielle Nahrung und den Diätenwahn von Michael Pollan. Im Original trägt das Buch den Titel In Defense of Food: An Eater’s Manifesto. Das Buch ist ein Aufruf dahingehend, auf vollwertige Lebensmittel zu achten und nicht darauf, wieviel Fett, Eiweiß oder Kohlenhydrate man zu sich nimmt oder ob man jeden Tag einen Apfel oder zwei essen soll.

Entsprechend einfach ist Pollans Empfehlung für eine gesunde Ernährung: Eat food. Not too much. Mostly plants.1

Michael Pollan ist Professor für Journalismus an der University of California at Berkley und hat schon mehrere Bücher zum Thema Ernährung geschrieben.

Das Buch

Das Buch ist in drei Hauptteilen gegliedert.

In Teil 1, „The Age of Nutritionism“,2 beschreibt und erklärt Pollan die moderne Entwicklung weg von Lebensmitteln und hin zu Nährstoffen als zentrales Thema der Ernährung. Man spricht nicht mehr über Eier sondern über Cholesterin, nicht mehr von Organgen, sondern von Vitamin C. Es ist nicht Gemüse, das wichtig ist, sondern die Antioxidantien im Gemüse. Dabei, so Pollan, ist echte Nahrung mehr als nur die Summe der Nährstoffe.3

Nährstoffismus. Obgleich die Anfänge schon im 19. Jahrhundert zu finden sind, vollzog sich der größte Wandel hin zum (übermäßigen?) Nährstoffblickwinkel in den 1980er Jahre. Sehr interessant (und traurig) sind die Einblicke in die Lobbyarbeit hinter den offiziellen Ernährungsempfehlungen der US-Regierung und den Gesetzen und Verordnungen zum Thema Ernährung und Verbraucherschutz. Ein Grund, weswegen man von den einzelnen Nährstoffen sprach und nicht von Lebensmitteln war, dass man die Industriezweige nicht verärgern wollte.

Als Folge des Nährstoffismus werden verstärkt Nahrungsmittelimitate wie Margarine (ein wahres Teufelszeug, das ursprünglich als Billig-Ersatz für Butter gedacht war) unters Volk gebracht, die man, als künstliche Lebensmittel, leicht und schnell den neuesten Erkenntnissen anpassen kann. Vitamin D ist wichtig? Kein Problem, schon wird es der Frankenstein’schen-Butter beigefügt. Aber nicht nur das, man züchtet nun auch magere Schweine und Rinder. Schließlich war Fett an fast allem Schuld. (Heute noch findet man in den USA hunderte von verschiedenen Low Fat-Artikeln. Erst gestern habe ich verzweifelt – und erfolglos – nach Kefir mit vollem Fettgehalt gesucht.)

Das Thema angesprochen, zeigt Pollan dann auch die Fehler der Theorie der fettarmen Ernährung auf und dass die Ernährungswissenschaft sich mehr und mehr von dieser ehemaligen Bastion des Erkenntnisses zurückzieht. Er zeigt aber auch die Probleme der Ernährungswissenschaft als solches. Bei der Ernährung kann man nicht einfach ceteris paribus Studien durchführen; streicht man gesättigte Fettsäuren aus der Ernährung, bleibt alles andere nicht gleich. Entweder nimmt man als Folge weniger Kalorien zu sich oder man ersetzt die nunmehr verbotenen Fettsäuren mit etwas anderes.

In Teil 2, „The Western Diet and the Diseases of Civilization“, geht es um die Auswirkungen der modernen industriellen Ernährung auf die Gesundheit. Nicht umsonst spricht man von Zivilisationskrankheiten.

Das Aborigine-Experiment. Zehn Aborigines mittleren Alters, alle übergewichtig, die Anfänge von Typ-2-Diabetes schon sichtbar und mit erhöhten Werten von Triglyceriden wurden 1982 für sieben Wochen aus ihrer städtischen Umgebung geholt, wo sie sich vornehmlich von Mehlprodukten, Reis, süßen Brausen, Alkohol, Milchpulver, billiges fettiges Fleisch, Kartoffel, Zwiebel und unterschiedlichem Gemüse und Früchten ernährten. Sie wurden in ihr traditionelles Stammesgebiet gebracht, weitab von der nächsten Stadt. Ihre Ernährung mussten sie jagen und sammeln; alle hatten noch das Wissen und die Fähigkeiten dazu. Zunächst siedelten sie sich an der Küste an, wo sie sich von Meeresfrüchten, Vögel, Känguru und fettreiche Maden ernährten. Sie zogen aber schließlich ins Landesinnere, um mehr Auswahl an pflanzlichen Lebensmittel zu haben. Ihr Lager errichteten sie an einem Fluß. Ihre Ernährung am Flußufer umfasste Fisch und Schalentier, Schildkröte, Krokodil, Vogel, Känguru, Yamswurzel, Feigen und Buschhonig.

Im Schnitt nahmen sie während der sieben Wochen über 8kg ab. Ihr Blutdruck senkte sich, ihre Triglyceride normalisierten sich und alle metabolischen Begleitungen von Typ-2-Diabetes verringerten sich entweder stark oder waren gar völlig verschwunden. Zudem wiesen alle weit höhere Werte an Omega-3-Fettsäuren vor.

Worauf diese positiven gesundheitlichen Entwicklungen beruhten, lässt sich nicht im Einzelnen sagen. Wohl aber im Allgemeinen. Und das ist der Punkt, den Pollan zu vermitteln versucht. Anstatt Essen in seine Einzelteile zu zerlegen, sollten wir die Ernährung als Ganzes betrachten, gar als Teil der Ökologie des Planeten. Schließlich können wir keine unterernährten Tiere oder Pflanzen essen und erwarten, dass diese uns genau so ernähren, wie ihre gesunden Verwandten.

Weston A. Price. Pollan bespricht erfreulicherweise auch Weston A. Price und dessen Studien zu Beginn des 20. Jahrhunderts über traditionell lebende Volksgruppen. Obgleich die Ernährungsweisen dieser Gruppen völlig unterschiedlich waren (manche aßen vorwiegend Meeresfrüchte, andere Milchprodukte, andere Fleisch, andere Früchte, Gemüse und Getreide), waren alle weitaus gesünder als im Schnitt die Gruppe des „zivilisierten Westens“. Im Übrigen fand Price jagende Volksgruppen in der Regel gesünder als von der Landwirtschaft lebende Stämme. Allen war jedoch gleich war, dass sie viel mehr Nährstoffe zu sich nahmen als der durchschnittliche Ami das heute tut (beispielsweise im Schnitt das Zehnfache an Vitamin A und D) und dass ihre Lebensmittel – egal ob Tier oder Pflanze – auf nährstoffreichem Boden wuchsen. Price war einer der ersten, der den Zusammenhang zwischen Bodenqualität und Ernährung feststellte und moderne Krankheiten als Folge eines ökologischen Ungleichgewichts ansah, bei dem Nährstoffe aus dem Boden geholt werden, ohne dass sie ihren Weg dorthin zurückfinden weil sie in städtischen Müllhalden landen.

Industrialisierung der Ernährung. Es folgt eine traurige und ernüchternde Beschreibung des Industrialisierungsprozesses unserer Nahrung und die Auswirkungen auf unsere Gesundheit. Von Vollwertkost hin zu verarbeiteten Nahrungsmitteln. Von Vielschichtigkeit zu Einfachheit.  Von Qualität zu Quantität. Von (Blätter-)Gemüse zu Getreide. Von einer Kultur des Essens zu einer Wissenschaft der Ernährung. Während ich hier nur Schlagwörter nenne, lässt Pollan diese lebendig werden. Ein Beispiel: Um genauso viel Eisen aus einem einzigen Apfel von 1940 zu bekommen, muss man heute drei essen. Die Gründe sind vielfältig: die Erde wird nicht nur ausgelaugt, es werden auch Lebensmittel gezüchtet, die weniger Nährstoffe haben. Dadurch sind sie länger haltbar; insbesondere Omega-3-Fettsäuren verderben leicht. Die Problematik der fehlenden Omega-3-Fettsäuren bzw. das Ungleichgewicht zwischen Omega-3- und Omega-6-Fettsäuren in der modernen Ernährung ist ein weiteres Thema, das Pollan anspricht.

Teil 3, „Getting Over Nutritionism“, liefert die Antwort auf die Frage „Was soll ich essen?“ und tut dies mit einer einfachen Eleganz, die viele von uns vermutlich schon so oder so verfolgen. Zwei Beispiele seiner Leitsatzes sind:

  • Iß nichts, was Deine Ur-Großmutter nicht wiedererkennen würde.
  • Meide Nahrungsmittel, die Zutaten beinhalten, die a) unbekannt sind, b) unaussprechlich sind, c) mehr als fünf sind oder d) Maissirup beinhalten.

Pollan empfiehlt zudem, Pflanzen zum Eckpunkt der Ernährung zu machen, wobei er – und das hat mich positiv überrascht – Blätterpflanzen betont und von Getreide eher Abstand nimmt. Dabei verteufelt er Fleisch nicht, sondern Fleisch von Stalltieren.4 Denn, wie er es so schön formuliert: Man ist, was, was man isst, isst.

Meine Meinung

Ich bin positiv und angenehm überrascht. Das Buch gefällt mir sehr gut. Ich muss zugeben, dass ich anfangs recht skeptisch war und ein glühendes, einseitiges Manifest für den Vegetarismus vorfinden würde, das ich entweder gar nicht rezensieren oder aber einer Kritik unterziehen würde.

Tatsächlich ist das Buch jedoch ein äußerst guter, einführender Bericht darüber, wie eine gesunde Ernährung auszusehen hat und was an der modernen, westlichen Ernährung alles falsch ist. In gewisser Hinsicht ist es das Gegenteil von Good Calories, Bad Calories von Gary Taubes. Während Taubes Buch voller detaillierter Studien ist und sich nicht scheut, ins wissenschaftliche Getümmel zu stürzen, sieht sich Lebensmittel: Eine Verteidigung gegen die industrielle Nahrung und den Diätenwahn als gut zu lesende Einführung in das Thema, die auch für denjenigen geeignet ist, der sich gesund ernähren und dabei verstehen will, was eine gesunde Ernährung ist, ohne aber gleich Ernährungsberater zu werden.

Entsprechend würde ich einem Freund, der sich für die Wissenschaft einer gesunden Ernährung interessiert, Good Calories, Bad Calories schenken. Ein Freund, der sich für eine gesunde Ernährung interessiert, würde Lebensmittel: Eine Verteidigung bekommen.

gegen die industrielle Nahrung und den Diätenwahn

  1. Iß echte Nahrung. Nicht zu viel. Vorwiegend Pflanzen.
  2. Wie wird „nutritionism“ auf Deutsch übersetzt? Nährstoffismus? Hat jemand die deutschsprachige Ausgabe des Buches?
  3. Ein Replikator wie in Star Trek würde wohl Nahrung perfekt reproduzieren (wobei die Crew sich beschwert, dass Essen aus dem Replikator schlechter als „echtes Essen“ schmeckt). Wir wissen einfach zu wenig über Ernährung, um die gesundheitlichen Vorteile einer Orange komplett in eine Pille stopfen zu können.
  4. Trotzdem finde ich, dass Pollan die Wichtigkeit von tierischen Produkten für die Gesundheit unterbewertet.

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