Gute Kalorien, schlechte Kalorien

Ich habe gerade das 2007 erschienene Buch Good Calories, Bad Calories des Wissenschaftsjournalisten Gary Taubes gelesen und bin begeistert. Es ist ein fantastischer, kritischer Überblick über die Ernährungswissenschaft und das beste Buch, dass ich bisher zum Thema gelesen habe. Taubes zeigt in einer wahren tour de force auf, wie die heute verbreitete Theorie einer vermeintlich gesunden fettarmen und kohlenhydratreichen Ernährung entstanden ist und sich ihren Weg in das Bewusstsein der Allgemeinheit gebahnt hat.

Das Buch

Das Buch, das Ergebnis von fünf Jahren Arbeit, ist in drei Teile gegliedert und umfasst mehr als 570 Seiten,  darunter eine fast 70-Seitige Bibliographie. Auch wenn flüssig und sehr klar geschrieben, so ist es ein wissenschaftliches Werk mit einer entsprechenden Dichte an Informationen.

Das Buch beginnt mit dem lesenswerten Vorwort, „A Brief History of Banting“, das u.a. die spannende Geschichte des Engländers William Banting im späten 19. Jahrhundert erzählt.

Banting, der es auf über 90kg brachte, schrieb über sich selber: Although no very great size or weight, still I could not stoop to tie my shoe, so to speak, or attend to the little offices humanity requires without considerable pain and difficulty, which only the corpulent can understand.1 Er betrachtete sich weder als faul noch als übermäßig gefräßig. Trotzdem sammelten sich in seinem dritten Lebensjahrzehnt die Pfunde nach und nach an.

Die Banting-Diät. Um abzunehmen, begann er zu rudern und andere sportliche Tätigkeiten zu verfolgen. Es half nichts. Er gewann an Kraft, aber auch an Gewicht. Er aß weniger Kalorien, aber dadurch wurde er nur erschöpft und kränklich. Schließlich traf er auf den Arzt William Harvey, der ihn auf eine kohlenhydratarme Diät setzte. Bantings Speiseplan umfasste drei Mal täglich um die 170g Fleisch, Fisch oder Wild mit 30g trockenem Toastbrot oder gekochten Früchten. Den nachmittaglichen Tee genoss er mit Früchten oder Toast. Und wie es sich für das 19. Jahrhundert ziemt, enthielt die Diät ordentlich Alkohol: vier oder fünf Gläser Wein, sowie morgens und abends jeweils ein Schnappsgläschen. Das Ergebnis dieser Diät war, dass er in neun Monaten um die 16kg verlor. Banting berichtete: I have not felt better in health than now for the last twenty-six years. My other bodily ailments have become mere matters of history.2 3

1863 hat er den Bericht „Letter on Corpulence“4 über seine Erfolge herausgebracht. Das Werk machte ihn in Europa und den USA berühmt. Aus seinem Namen hat man sogar das Verb „to bant“ abgeleitet – eine Diät machen.

Aber nun zu den Hauptteilen des Buches, wobei ich inhaltlich nur an der Oberfläche des Buches kratze. Dafür ist das Buch zu umfangreich. Das Inhaltsverzeichnis mit den einzelnen Kapiteln ist allerdings bei Amazon.de einsehbar und liefert einen guten Überblick über die angesprochenen Themen. Einfach auf den Buchdeckel des Buches klicken.

Teil 1, „The Fat-Cholesterol Hypothesis“, zeigt die Wissenschaft und Politik hinter der heute verbreiteten Ansicht, dass Fett ungesund ist und zusammen mit Cholesterin für viele Erkrankungen verantwortlich ist. Besonders aufschlussreich und erschreckend ist die Erkenntnis, dass viele Studien, auf die sich Befürworter einer fettarmen Ernährung berufen, fehlerhaft konstruiert waren. Oft wurden Studienergebnisse auch fehlinterpretiert oder ignoriert – gemäß Taubes jedoch ein roter Faden, der sich durch die Ernährungswissenschaft zieht.

Fehlinterpretationen. Als 1962 entdeckt wurde, dass die nomadischen Masai Kenias trotz einer Diät bestehend aus dem Milch und Blut ihres Viehs und gelegentlich etwas Fleisch – also einer Ernährung reich an Cholesterin und gesättigten Fetten -, mit die niedrigsten Blutcholesterinwerte hatten, die jemals gemessen wurden, verwies Ancel Keys, einer der bekanntesten Befürworter einer fettarmen Ernährung, auf die Stämme der Rendille und Samburu in Kenia, die sich ähnlich wie die Masai ernähren. Auch die Samburu hatten niedrige Blutcholesterinwerte, und bei den Rendille lag der Wert bei 230mg/dl – das heißt auf dem gleichen durchschnittlichen Niveau wie damals in den USA.

Diese niedrigen bzw. bei den Rendille nicht sonderlich hohen Werte wären jedoch gerade der Beweis, so Keys, denn die Werte seien bei einer Ernährung auf dem Existenzminimum zu erwarten. Hätten die Volksgruppen ausreichend zu essen, würden ihre Werte in die Höhe schnellen. Das Problem dabei war nur, dass die Masai täglich 3000 Kalorien zu sich nahmen. Es gab keinen Grund anzunehmen, dass die Samburu und die Rendille am Hungertuch nagten.5

Ein weiteres Beispiel für das Verdrehen von Tatsachen war die Behauptung eines Forschers, dass die traditionell lebenden Inuit Kanadas so gesund seien, weil sie in Wirklichkeit keine (!) fettreiche Ernährung genießen.6 Dabei ernähren sie sich fast ausschließlich von der Jagd. Meeressäuger spielen eine besonders wichtige Rolle bei der Ernährung.

In Teil 2, „The Carbohydrate Hypothesis“, wird die Gegentheorie zur Fett-Cholesterin-Hypothese des ersten Teils untersucht.

Albert Schweitzer. Es ist 1913. Albert Schweizer ist in Gabun, um ein Krankenhaus zu gründen. In den ersten neun Monaten sieht er fast 2000 Patienten; in den knapp vier Jahrzehnten danach hat er im Schnitt 30 – 40 Patienten am Tag sowie drei Operationen die Woche. Am Anfang seiner Tätigkeit gab es fast ausschließlich Krankheiten endemischer und infektiöser Natur wie Malaria oder Lepra zu behandeln. Krebs und andere Erkrankungen der Moderne waren bis Jahrzehnte später unbekannt. Beispielsweise hatte er erst 1951 seinen ersten Patienten mit einer Blinddarmentzündung. Schweitzer kam zu der Überzeugung, dass das vermehrte Vorkommen an Krebs und anderen Erkrankungen im Zusammenhang mit der fortschreitenden Verwestlichung der einheimischen Lebensweise stand.7

Taubes führt zahlreiche andere Studien über die Gesundheit verschiedener Völker auf. Die Erkenntnisse sind überall gleich: auf einer traditionellen, in der Regel an tierischen Fetten reichen Ernährung sind Krebs, Diabetes, Krampfadern, Herzerkrankungen und andere moderne Leiden unbekannt. Diese tauchen erst mit einer westlichen bzw. an raffinierten Kohlenhydraten reichen Ernährungsweise auf.

Diabetes. Beispielsweise haben schon vor 2000 Jahren hinduistische Ärzte Diabetes als ernährungsbedingte Krankheit angesehen, deren Ursache der Genuss des erst kürzlich aus Neuguinea eingeführten Zuckers war.8 Auch eine Befragung von Ärzten im Britischen Empire Anfang des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass Diabetes in den traditionell lebenden Volksgruppen der Kolonien im Grunde unbekannt war. Viele Ärzte hatten noch nie einen Fall bei diesen Volksgruppen gesehen, andere höchstens ein oder zwei Fälle trotz langjähriger Praxiserfahrung.9 Mehr noch, bereits 1924 bemerkte man, dass ein Rückgang bzw. Anstieg des Zuckerkonsums, z.B. in Folge des Ersten Weltkrieges, einige Monate später von einem Rückgang bzw. Anstieg der Todesfälle durch Diabetes gefolgt wurde.10

Krebs. Hinsichtlich Krebs hat der Forscher John Yudkin bemerkt, dass in den 1970er die Länder mit der höchsten Sterblichkeitsrate an Brustkrebs (in absteigender Reihenfolge: das Vereinigte Königreich, die Niederlande, Irland, Dänemark und Kanada) den höchsten Zuckerkonsum (das Vereinigte Königreich, die Niederlande, Irland, Kanada und Dänemark) hatten. Die Länder mit der niedrigsten Mortalitätsrate (Japan, Jugoslawien, Portugal, Spanien und Italien) hatten auch den niedrigsten Zuckerkonsum (Japan, Portugal, Spanien, Jugoslawien und Italien). Andere Studien konnten eine Korrelation zwischen Zuckerkonsum und dem Vorkommen und Sterblichkeit von Darm-, Brust-, Eierstock-, Prostata-, Nieren-, Zentralnervensystem- und Hodenkrebs feststellen.11

In Teil 3, „Obesity and the Regulation of Weight“, setzt sich Taubes mit dem Thema Übergewicht auseinander. Während Übergewicht (und Diabetes) oft damit erklärt wird, dass es heute einen Überfluss an Nahrungsmittel gib, merkt Taubes an: When food is abundant, species multiply; they don’t get obese and diabetic.12 (Wenn Nahrung im Überfluss ist, vermehren sich Spezies; sie werden nicht dick und diabetisch.)

Jäger und Sammler. Und damit hat er vollkommen Recht. Wir wissen, dass traditionell lebende Jäger und Sammler eine exzellente Gesundheit aufweisen und weder an Dickleibigkeit noch Diabetes leiden. Viele mögen glauben, dass das Leben eines Jäger und Sammlers hart und voller Hungersnöte ist, aber tatsächlich haben/hatten Jäger und Sammler in der Regel einen Überfluss an Nahrung. Mitte der 1960er berichtete beispielsweise eine anthropologische Forschungsgruppe, dass die !Kung an einem Tag genug qualitativ hochwertiges Essen für die nächsten drei Tage sammelten – obwohl gerade eine der schlimmsten Dürreperioden in der Geschichte Südafrikas herrschte! Dass das kein Einzelfall ist, wissen wir von anderen Stämmen. Heute ist es schwer vorstellbar, aber die Natur war früher eine wahre Schatztruhe. So berichteten europäische Entdecker unberührter Gegenden regelmäßig von Wild in schier unglaublicher Zahl.13

Der Grund, weswegen Jäger und Sammler trotz eines Überflusses an Nahrung nicht dick werden ist, dass der Körper einen ausgeklügelten Mechanismus besitzt, um sein Gewicht zu halten. Nimmt man zu viele Kalorien zu sich, versucht der Körper diese in Form von Körperwärme und durch mehr Bewegung wieder zu verbrennen.

Übergewicht als Symptom einer Erkrankung. Nur wenn dieser Mechanismus gestört ist verändert sich unser Gewicht. Vereinfacht gesagt sieht Taubes das Problem in einer Störung des Insulinsystems durch ein Übermaß an (raffinierten) Kohlenhydraten. Kohlenhydrate bewirken nämlich die Ausschüttung des Insulin-Hormons, welches unter anderem die Fettspeicherung steuert. Ein Übermaß an Kohlenhydraten kann jedoch das Insulinsystem aus dem Gleichgewicht bringen. Eine Folge davon kann sein, dass der Körper übermäßig Fett ansetzt. (Wie gesagt, das ist alles nur sehr vereinfacht dargestellt, aber das Buch erklärt diese physiologischen Prozesse in sehr klarer und detaillierter Sprache.)

Daher ist Übergewicht das Resultat dessen, was man isst – nicht, wieviel man isst. Es ist die Störung, die bewirkt, dass wir mehr essen und uns weniger bewegen. Wir werden im Grunde von unserem Körper angetrieben, an Gewicht zuzulegen.

Diese Sichtweise lässt sich sehr gut am Beispiel von wachsenden Kindern verdeutlichen. Kinder essen viel, weil sie wegen ihres Wachstums hormonell dazu angetrieben werden. Sie brauchen die Energie, um zu wachsen. Analog der herkömmlichen Theorie, dass wir dick werden, weil wir zu viel essen und uns zu wenig bewegen, würde man sagen, dass Kinder wachsen, weil sie viel essen.

Man muss sich aber bewusst werden, was das heißt. Wenn man nicht dick wird, weil man zu viel isst, sondern man isst zu viel, weil der Körper aufgrund einer metabolischen und hormonellen Fehlsteuerung will, dass man Fett anlegt, dann ist Übergewicht – und im Grunde all die Symptome des metabolischen Syndroms, wie Taubes erklärt – nichts anderes als eine hormonelle und metabolische Erkrankung.

Kohlenhydrate als Fettmacher. Ein weiterer Aspekt, wieso Kohlenhydrate in der Ernährung problematisch sind, ist, dass es äußerst schwer ist, sich mit Fett oder Eiweiß zu überessen, während es mit Kohlenhydraten vergleichsweise leicht geht. Deshalb verwenden beispielsweise die Massa in Kamerun oder die Sumoringer Japans kohlenhydratreiche Diäten, wenn Gewicht zugenommen werden soll.14

Die Situation der Sumoringer lohnt sich eines genaueren Blickes. Professionelle Ringer teilt man in zwei Gruppen ein: eine obere, mit den besseren Ringern, und eine untere. Gemäß einer Studie von 1976 nimmt die obere Gruppe ca. 5500 Kalorien zu sich, wovon 57% von Kohlenhydraten kommen, 27% von Eiweiß und nur 16% von Fett. Die untere Gruppe nimmt im Schnitt ca. 5100 Kalorien zu sich, wovon knapp 80% von Kohlenhydraten kommen, 11% von Eiweiß und 9% von Fett. Beide Diäten haben einen auffallend geringen Fettanteil und einen hohen Anteil an Kohlenhydraten. Bezeichnend ist, dass obwohl die untere Gruppe weniger Kalorien und weniger Fett zu sich nimmt (dafür aber mehr Kohlenhydrate), sie um einiges Fetter ist und weniger Muskelmasse hat.15

Und da will noch einer sagen, dass fettarme und kohlenhydratreiche Diäten zum Abnehmen geeignet sind (abgesehen davon, dass sie auch andere gesundheitliche Probleme herbeiführen, jedenfalls wenn wir von raffinierten Kohlenhydraten sprechen)!16

Meine Meinung

Ich habe schon am Anfang des Beitrages geschrieben, dass „Good Calories, Bad Calories“ ein fantastisches Buch ist. Dabei bleibt es. Wer sich nicht durch die Dichte des Werkes abschrecken lässt und sich gerne mit Studien, Fakten und physiologischen Erklärungen (diese machen einen wichtigen Teil des Buches aus) befasst, wer sich gerne beide Seiten einer Diskussion anhört und wer verstehen will, wieso die heutige Ernährungswissenschaft als gesund empfiehlt, was sie empfiehlt, dem sei dieses Buch ohne Einschränkung empfohlen.

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  1. Obgleich nicht besonders schwer oder groß, so konnte ich mich weder bücken, um meine Schuhe zu binden, noch die kleinen Obliegenheiten des täglichen Lebens ohne beachtliche Schmerzen und Schwierigkeiten, wie nur die Korpulenten verstehen können, erledigen.
  2. Noch nie in den letzten 26 Jahren habe ich mich gesundheitlich besser gefühlt. Meine anderen körperlichen Leiden gehören der Vergangenheit an.
  3. Siehe dazu Taubes, Gary: Good Calories, Bad Calories (2007, gebundene Ausgabe). ISBN-13: 978-1-4000-4078-0. Seite ix f.
  4. Online erhältlich: Banting, William: Letter on Corpulence (4th ed., 1869).
  5. Siehe S. 25 f.
  6. Siehe S. 106 f.
  7. Siehe S. 89.
  8. Siehe S. 100.
  9. Siehe S. 102; Taubes beruft sich dabei auf das 1938 erschienene Buch Civilization and Disease von C. P. Donnison.
  10. Siehe S. 103 f.
  11. Siehe S. 211 f.
  12. Siehe S. 247.
  13. Siehe S. 246 f.
  14. Siehe S. 306.
  15. Siehe S. 306 f. (Urquelle kostenlos online erhältlich: Nishizawa et al.: Some factors related to obesity in the Japanese sumo wrestler. The American Journal of Clinical Nutrition 29: October 1976:1167-1174.)
  16. Nachtrag. Im Buch wird vielleicht nicht deutlich, dass Taubes vernünftigerweise Kohlenhydrate nicht per se als ungesund ansieht. Stephan von WholeHealthSource schreibt über ein Gespräch mit Taubes:

    (Taubes) also offered the „carbohydrate hypothesis“, which is the idea that carbohydrate, or at least refined carbohydrate, is behind the obesity epidemic and perhaps other metabolic problems. This is due to its ability to elevate insulin. I agree that refined carbohydrate, particularly white flour and sugar, is probably a central part of the problem. I’m also open to the possibility that some people in industrial nations are genuinely sensitive to carbohydrate regardless of what form it’s in, although that remains to be rigorously tested. I don’t think carbohydrate is sufficient to cause obesity per se, due to the many lean and healthy cultures that eat high carbohydrate diets. Gary acknowledges this, and thinks there’s probably another factor that’s involved in allowing carbohydrate sensitivity to develop, for example excessive sugar.

    Hervorhebung von mir. Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Der Mensch kann mit einer erstaunlichen Bandbreite an Ernährungsweisen gesund leben: siehe die Einwohner Kitavas mit nur 20% Fett in der Ernährung und die Inuit mit 80% Fett. Eine gesunde Ernährung lässt sich nicht auf Prozente von Kohlenhydraten, Eiweiß und Fett in der Ernährung reduzieren.

2 Gedanken zu „Gute Kalorien, schlechte Kalorien“

  1. Hallo Bertram,

    vielen Dank für die gute Zusammenfassung von Gary Taubes Buch.

    Zu dem sehr interessanten Thema „Why we gain weight“ kann man sich hier http://www.dhslides.org/mgr/mgr060509f/f.htm einen sehr interessanten Vortrag von Gary Taubes ansehen. In der 1 Stunde dauernden Vorlesung entwickelt er seine Hypothese, dass Übergewicht das Symptom einer Erkrankung ist, welche durch ein Übermaß an KH in unserer Nahrung verursacht wird.

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    • Hallo Rainer,
      vielen Dank für den Link zu dem sehr interessanten Vortrag. Die Stunde ist gut investierte Zeit. Wer das Buch nicht kennt sollte sich den Vortrag definitiv anschauen.

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