Steh oder stirb – Wieso sitzen tötet

Ein Artikel in der Zeitschrift Harvard Business Review bezeichnet das Sitzen als das Rauchen der heutigen Generation. Und auch der Spiegel hat sich einer entsprechenden Überschrift für ein Interview mit Esther Gokhale bedient.

Dr. Joan Vernikos, von 1993-2000 Leiterin der Life Sciences Abteilung bei der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA und bahnbrechende Forscherin über die Notwendigkeit der Schwerkraft für unsere Gesundheit (die fehlende Schwerkraft ist der Grund, weswegen Astronauten im Weltraum körperlich abbauen und 10x so schnell altern wie auf der Erde (1)) schreibt in ihrem neuen Buch Sitting Kills, Moving Heals: How Everyday Movement Will Prevent Pain, Illness, and Early Death – And Exercise Alone Won’t, dass nicht ein Mangel an Sport zu Übergewicht und anderen Zivilisationskrankheiten führt, sondern ein Mangel an non-exercise movement, also normale alltägliche Bewegung außerhalb des Trainings.

Sitzen dient hier quasi als Oberbegriff für Nicht-Bewegung, für den Mangel an gegen die Schwerkraft gerichtete Bewegung. Denn auch ein langes Stehen ist nicht gesund. Der Körper ist nicht für Passivität gemacht. Der Körper muss sich gegen die Schwerkraft bemühen. Dr. Vernikos sieht die Überwindung der Schwerkraft als einen wichtigen körperlichen Reiz. So erklärt sich auch unsere Freude an Bewegungen wie Springen, Fahrradfahren und Skifahren.

Wir sitzen heute länger als wir schlafen. Im Schnitt sind es 9,3 Stunden täglich verglichen mit 7,7 Stunden Schlaf.(2) Auf der Arbeit sitzen wir am Schreibtisch, in der Mittagspause am Esstisch, in der Kaffeepause in der Kantine. Nach der Arbeit erholen wir uns beim Lesen oder Fernsehschauen, natürlich im Sitzen. Auf dem Weg zur und von der Arbeit sitzen wir im Auto oder im Bus.

Sitzen wirkt sich auf zweierlei Art nachteilig aus:

  1. Sitzen schadet der Körperhaltung.
  2. Sitzen wirkt metabolisch nachteilig.

Das Sitzen auf Stühlen ist eines der Hauptgründe für Rückenschmerzen und Hüftbeschwerden. In Kulturen, in denen stattdessen gehockt wird, sind Hüft- und Rückenprobleme weitaus seltener.

Zwar ist Sitzen heute ein kaum auszuweichendes Übel, es gibt aber auch für diejenigen Abhilfe, die keinen Stehschreibtisch ins Büro schleppen oder dort am PC in der Hocke arbeiten können. Dazu nachher mehr. Vorher werden wir uns einen Überblick über die physiologischen Auswirkungen des Sitzens verschaffen.

Sitzen und Deine Körperhaltung

Sitzen verändert die Standardhaltung des Körpers auf vielfältige Weise, (3) die sich aber in dem Satz „Wer rastet, der rostet“ zusammenfassen lässt.

  • Muskeln werden verkürzt und steif, z.B. der hintere Oberschenkelmuskel oder die Schultern.
  • Muskeln werden „vergessen“, d.h. der Körper hat Probleme, diese bei Bedarf zu aktivieren. Paradebeispiel ist der Gesäßmuskel, eigentlich einer der kräftigsten Muskel im Körper und beim Menschen aufgrund des aufrechten Ganges im Vergleich zu den anderen Affen in besonderem Maße entwickelt.
  • Schlechte Haltung wird einprogrammiert, z.B. Schultern und Kopf nach vorne – die typische Schildkröten-Haltung am PC. Diese Position schränkt das Lungenvolumen ein und führt zu weiteren Muskelstörungen, die sich u.a. in Kopfschmerzen, Augenproblemen, uvm. auswirken können. (4)
  • Mobilität in Gelenken wird reduziert, z.B. in der Hüfte und im Fußknöchel.

Weiter Unten sind einige Hinweise, wie man „richtig“ sitzt, um nicht wie Quasimodo auszusehen.

Von erikdalton.com. Die gefürchtete Schildkrötenhaltung und die dadurch entstehende Belastung für die Wirbelsäule.

Sitzen und Dein Körper

Wer weitere Studien hat kann diese gerne in den Kommentaren schreiben und wir fügen sie hier ein.

Vorbeugende Maßnahmen

Es ist recht klar, dass ununterbrochene Inaktivität sehr schädlich für den Körper ist.

Regelmäßiges Aufstehen

Alle 20 Minuten aufstehen und ein paar Kniebeugen (die am besten in Sprünge münden) machen. Regelmäßiges Aufstehen ist viel nützlicher als 1x am Tag 30 Kniebeugen hintereinander zu machen. Merke: Es kommt nicht darauf an, wie viele Stunden man am Tag sitzt; es kommt darauf an, wie oft das Sitzen unterbrochen wird.

Andere Ideen, um mehr Aktivität im Alltag einzubauen: Im Stehen fernsehen oder im Gehen oder in der Hocke lesen. Natürlich immer die Treppe statt den Aufzug nehmen, möglichst am hinteren Ende des Parkplatzes parken, usw.

Übungen für die Körperhaltung

Deep squat, vorgeführt von Kelly Starrett
Eine der wichtigsten Übungen überhaupt. Eine völlig natürliche Position, die wir heute kaum noch einnehmen. Wer hockt schon auf dem Boden oder sitzt so auf dem Klo? Einfach 10 Minuten täglich hocken. (NEU: Kelly hat ein neues Buch rausgebracht: Deskbound – Standing up to a Sitting World; deutsche Version ab 15.08.2016: Sitzen ist das neue Rauchen: Das Trainingsprogramm, um lebensstilbedingten Haltungsschäden vorzubeugen und unsere natürliche Mobilität zurückzugewinnen)

Thoracic Bridge Instructional Video – Improve your flexibility in 30 seconds

Eine dynamische Übung für Becken und Oberkörper.

Walking Spiderman Tips from Eric Cressey

Hervorragend, um das ganze Becken aufzulockern. Sehr wichtig, wenn man viel sitzt.

Trap 3 Raises with Lee Boyce

Eine wichtige Übung, um u.a. einen nach vorne-stehenden Kopf entgegenzuwirken.

Seated Hip Stretch

Kann man gut im Büro, sitzend am Schreibtisch machen.

Desk thoracic mob for all you professional sitters

Wichtig, um die Beweglichkeit der oberen Wirbelsäule zu erhalten.

Chair lower back stretch

Eine Dehnung im Sitzen für viele Muskelpartien des Oberkörpers.

Health@Google: Deskbound by Kelly Starrett

Ein fast 1-stündiger Vortrag von Kelly Starrett von MobilityWOD über Schreibtischarbeit.

Kelly Starrett von Mobility WOD über die Mobilisierung der Hüfte und der Beinmuskulatur

Unter anderem werden Übungen mit dem Foam Roller gezeigt. Foam Roller sind nicht ganz günstig, lohnen sich aber sehr.

http://www.endurancewod.com/_library/MobilityWOD%20-%20PSE%20Chapter.pdf

Quellen:

Siehe die Links im Artikel.

1 Gedanke zu „Steh oder stirb – Wieso sitzen tötet“

Schreibe einen Kommentar