Fehlbiss: Zivilisationskrankheit. Teil 5

Der Neurobiologe Stephan Guyenet, Ph.D. von der englisch-sprachigen Webseite Whole Health Source hat eine exzellente Serie zum Thema Fehlbiss und Ernährung geschrieben. Die Serie umfasst neun Artikel; dieser Beitrag ist die Zusammenfassung/Übersetzung des fünften Artikels der Serie. Die Zusammenfassung von Teil 1 findest Du hier; Teil 2 hier, Teil 3 hier und Teil 4 hier.

In Teil 4 der Serie haben wir über die drei Entwicklungsphasen des Gesichtes und des Kiefers gesprochen. Die drei großen Entwicklungsphasen sind 1) die vorgeburtliche Phase, 2) die frühe nachgeburtliche Phase und 3) die Phase in der Pubertät.

Am wichtigsten in der vorgeburtlichen Phase für die Entwicklung des Kiefers und des Gesichtes ist das erste Trimester. Zwischen den Wochen 5 bis 11 formen sich der Kiefer, die Nasenscheidewand sowie andere Elemente des Schädels. Noch kann das Kind nichts für seine Ernährung. Es bekommt seine Nährstoffe von seiner Mutter. Ein Mangel oder Zuviel an Nährstoffen kann nachhaltige Konsequenzen für die Entwicklung des Kindes haben. Daher bekommen schwangere Frauen oft Vitamine und Mineralien von ihren Frauenärzten verschrieben.

Schon Anfang der 1970er hat man bemerkt, dass Kinder von Frauen, die im ersten Trimester der Schwangerschaft Blutverdünner wie Warfarin (das im Übrigen als Rattengift verwendet wurde und wohl noch wird) zu sich genommen hatten, eine charakteristische Fehlentwicklung erlitten. Die Nasenscheidewand hatte sich nicht richtig ausgebildet, Nebenhöhlen waren entweder klein oder gar nicht vorhanden und auch der Oberkiefer hatte sich nicht wohl ausgeformt. Diese Fehlentwicklung des Kindes wurde schließlich Warfarin-Embryopathie genannt. Als die Kinder aufgewachsen sind, hat sich gezeigt, dass sie alle Malokklusion und einen engen Zahnbogen aufwiesen, sowie einen Zahnengstand hatten.

Die Rolle des Vitamin K

Warfarin hemmt die Blutgerinnung, indem es Vitamin K sozusagen aus dem Verkehr zieht. Denn ohne Vitamin K kann das Blut nicht gerinnen. Mittlerweile ist bekannt, dass auch andere Medikamente, die Vitamin K hemmen, eine Warfarin-Embryopathie auslösen können. Oder aber Krankheiten wie die Zöliakie. 1

Der Grund, weswegen Vitamin K für die vorgeburtliche Entwicklung des Kiefers und Gesichtes ist, dass Vitamin K für die Aktivierung des Eiweißes Matrix-Gla notwendig ist, und dieses Eiweiß bei der Entwicklung des Kiefers und des Gesichtes eine große Rolle spielt.

Wie bei den B-Vitaminen gibt es eine Gruppe von Ks. Für den menschlichen Stoffwechsel von Bedeutung sind Vitamin K1 und Vitamin K2, wobei Matrix-Gla Vitamin K2 vorzieht. Vitamin K1 ist für die Photosynthese von Pflanzen unerlässlich. Von daher wundert es nicht, dass Vitamin K1 in grünem Gemüse zu finden ist.

Vitamin K2 umfasst eine Gruppe von Molekülen, die als Menachinone (MK) bezeichnet werden und anhand der Länge der Kette, die dem Chinonring anhaftet, spezifiziert werden. MK-4 ist also ein Menachinon mit einer 4er-Kette. Für den Menschen wichtig sind die MK-4 bis MK-12 (oder so).

Vitamin K2 MK-4 findet sich fast ausschließlich in tierischen Nahrungsmittel und da insbesondere in Eier, Innereien und Butter von Tieren, die auf natürlicher Weise weiden – denn auch hier gilt die Weisheit Tier ist, was es isst. 2 MK-4 ist immer in Nahrungsmittel wie Eier und Milch zu finden, die der Ernährung von wachsenden Tieren dienen.

Zum Teil kann der Körper bei einem hohen Vorkommen von Vitamin K1 dieses in Vitamin K2 wandeln. Man weiß allerdings nicht, wieviel K2 der Körper aus K1 herstellen kann.

Vitamin K-Mangel und Malokklusion in industrialisierten Gesellschaften

Stephan stellt sich nun die Frage: Wenn ein deutlicher Mangel an Vitamin K zu einer deutlichen Malokklusion führt, kann ein geringer Mangel zu einem weniger ausgeprägten Form einer Malokklusion führen? Zur Beantwortung der Frage präsentiert er folgende Tatsachen:

  • Neugeborene in industrialisierten Gesellschaften haben in der Regel einen Mangel an Vitamin K. Um das Risiko der Verblutung des Kindes zu minimieren, bekommen Neugeborene bei der Geburt Vitamin K verabreicht.
  • Föten haben wenig Vitamin K. 3
  • Die Plazentabarriere lässt Vitamin K zur Plazenta durch. Das Transportsystem ist jedoch in hohem Maße selektiv für Vitamin K2 MK-4 im Vergleich zu Vitamin K1. 4
  • Vergleicht man das Blut der Mutter und das Blut in der Nabelschnur, ist Vitamin K1 bei der Mutter in viel höherer Konzentration als im Blut der Nabelschnur vorhanden. Bei Vitamin K2 ist die Konzentration jedoch gleich. Vitamin K2 MK-7 ist in der Nabelschnur nicht vorhanden, auch wenn die Mutter es der Ernährung ergänzt. 5 Vermutlich kann MK-7 daher MK-4 während der Schwangerschaft nicht ersetzen.
  • Bei Ratten konnte Vitamin K2 MK-4 eine Arteriencalcifizierung unterbinden, Vitamin K1 jedoch nicht. 6
  • Im Menschen ist die Brust dasjenige Organ, das am effizientesten MK-1 in Vitamin K2 MK-4 wandeln kann. 7

Wenn Föten und Neugeborene in industriellen Gesellschaften einen Mangel an Vitamin K haben und bedenkt man das Vitamin K2 MK-4 eine Rolle bei der Entwicklung des Gesichtes und des Kiefers spielt, könnte es sein, dass ein subklinischer Mangel an Vitamin K2 tatsächlich ein Grund für die Zivilisationskrankheit Fehlbiss sein.

Vorsicht ist besser als Nachsicht

Wie bei Folsäure, Vitamin D und Vitamin A braucht der Körper eine gewisse Zeit, bis er ausreichende Werte an Vitamin K2 angesammelt hat. Für das noch ungeborene Kind im ersten Trimester ist es daher wichtig, welche Nahrungsmittel die Mutter viele Monate vor der Zeugung zu sich nahm.

In vielen Naturvölkern genießen interessanterweise Frauen im gebärenden Alter eine besondere Ernährung, die reich an fettlöslichen Vitamine wie K, D, A und E sind. Dadurch soll eine gesunde Schwangerschaft gewährleistet und gesunde, wohlgebildete Kinder geboren werden.

Wo haben wir das her?

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  1. Vitamin K deficiency embryopathy: a phenocopy of the warfarin embryopathy due to a disorder of embryonic vitamin K metabolism – Am J Med Genet. 1997 Oct 17;72(2):129-34.
  2. Siehe auch Glückliche Hühner, gesunde Eier.
  3. Coagulation in the human fetus. Comparison with term newborn infants – J Pediatr – 1974 Dec;85(6):860-4.
  4. A study on the placental transport mechanism of vitamin K2 (MK-4) – Asia Oceania J Obstet Gynaecol. 1992 Mar;18(1):49-55.
  5. Distribution of K vitamins (phylloquinone and menaquinones) in human placenta and maternal and umbilical cord plasma – Am J Obstet Gynecol. 1988 Mar;158(3 Pt 1):564-9.
  6. Tissue-specific utilization of menaquinone-4 results in the prevention of arterial calcification in warfarin-treated rats – J Vasc Res. 2003 Nov-Dec;40(6):531-7. Epub 2003 Dec 3.
  7. Menaquinone-4 in breast milk is derived from dietary phylloquinone – Br J Nutr. 2002 Mar;87(3):219-26.

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