Fehlbiss: Zivilisationskrankheit. Teil 1

Der Neurobiologe Stephan Guyenet, Ph.D. von der englisch-sprachigen Webseite Whole Health Source hat eine exzellente Serie zum Thema Fehlbiss und Ernährung geschrieben. Die Serie umfasst neun Artikel; dieser Beitrag ist die Zusammenfassung/Übersetzung des ersten Artikels der Serie. Weitere Zusammenfassungen folgen.

Was ist ein Fehlbiss?

Der Fehlbiss ist eine Zahnfehlstellung zwischen Ober- und Unterkiefer. Dadurch ist der Zahnreihenschluss (die sog. Okklusion) gestört.

Stephan zeigt anhand zahlreicher Studien auf, dass Jäger-und-Sammler einen exzellenten Zahnreihenschluss hatten und haben, Ackerbauern in der Regel einen guten Zusammenschluss vorweisen und dass die moderne Ernährung in industrialisierten Gesellschaften zu schiefen Zähnen, schmalen Zahnbögen und/ oder wenig Platz für die Weisheitszähne führt. Stephan ist der Meinung, dass dadurch die Entwicklung des Schädels, und damit des Gesichtes und der Nebenhöhlen, beeinflusst wird.

Als Ausgangspunkt der Serie dient die grundlegende Abhandlung von 1984 An Epidemiologic Transition in Dental Occlusion in World Populations 1 von Dr. Robert S. Corruccini, gegenwärtig Professor für Anthropologie an der Southern Illinois University.

Die Abhandlung des Dr. Corruccini

In seiner Abhandlung von 1984 hat Dr. Corruccini den Zahnreihenschluss verschiedener Kulturen untersucht. Die meisten Kulturen hat er selber besucht.

Die Kulturen kann man in zwei Gruppen unterteilen. Gruppen, die sich noch traditionell ernähren, und solche, die sich einer modernen Ernährung verschrieben haben. Wichtig ist, dass er immer genetisch ähnliche Kulturen miteinander verglichen hat. Beispielsweise die ältere Generation der Pima-Indianer im Südwesten der USA im Vergleich zur jüngeren Generation oder städtisch-lebende Punjabis im Vergleich zu ländlich-lebenden.

In der Abhandlung berücksichtigt sind auch Daten über den Zahnreihenschluss von archäologischen Ausgrabungsstätten und nicht-menschlichen Primaten. Nicht-menschliche Tiere (und andere Wildtiere) haben im Übrigen fast durchgehend einen perfekten Zahnreihenschluss.

Dr. Corruccini hat in seiner Abhandlung alle Okklusionsdaten zum sogenannten Treatment Priority Index (TPI) oder  Behandlungsdringlichkeitsindex zusammengefasst (Achtung: 3 Wörter im Englischen, 1 Wort im Deutschen!).  Der TPI ist ein Maßstab zur Dringlichkeit einer kieferorthopädischen Behandlung. Ab Stufe 4 besteht ein fehlerhafter Zahnreihenschluss, wobei die Grenze, wohl wie überall, zu einem gewissen Maß subjektiv ist.

Von Dr. Corruccini als Graphik zusammengefasst sieht der TPI für verschiedene Kulturen so aus:

Corruccini 1984 TPI

Besonders aufschlussreich:

  • Jede städtische bzw. industrielle Kultur hat einen TPI > 4, während jede weniger industrialisierte Kultur einen TPI < 4 aufweist. Der Durchschnittsmensch einer industriellen Kultur braucht für einen guten Zahnreihenschluss eine kieferorthopädische Behandlung, während der Durchschnittsmensch einer weniger industrialisierten Kultur von Natur aus einen guten Zahnreihenschluss vorweist.
  • Der kieferorthopädische Verfall vollzieht sich innerhalb ein bis zwei Generationen, wobei der größte Unterschied zwischen den Generationen einer Volksgruppe die Ernährung war. Egal ob bei den Pima-Indianern Nordamerikas, bei chinesischen Einwanderern in Liverpool und ihren Kindern, bei Personen im US-Bundesstaat Kentucky, bei Schwarzen und Weißen in den USA, überall hatte die jeweils jüngere Generation einen schlechteren Zahnreihenschluss. Das Aufkommen der Malokklusion ging einher mit der Umstellung der Ernährung:
  • Die ältere Generation der Pima-Indianer ernährte sich eher landwirtschaftlich traditionell, während die jüngere Generation mit industriell verarbeiteten Lebensmitteln aufwuchs.
  • In den Appalachen Kentuckys hat sich die Ernährung auch innerhalb einer Generation geändert. Während die ältere Generation noch traditionell lebte, d.h. von der Jagd und dem landwirtschaftlichen Anbau, wuchs die jüngere Generation mit industriell verarbeiteten Lebensmitteln auf.

Offenbar geht die Industrialisierung also mit einem gehäuften Aufkommen einer Malokklusion einher. Obgleich der Fehlbiss nicht wirklich eine Krankheit ist, bezeichnet Stephan einen fehlerhaften Zahnreihenschluss als disease of civilization, also als Zivilisationskrankheit. Damit hat er meines Erachtens vollkommen Recht. Wie er schreibt: mit einer weiten Auslegung passt Zivilisiationskrankheit als Begrifflichkeit für all die gesundheitlichen Probleme, die entstehen, wenn der Mensch sich seiner ökologischen Nische zu weit entfernt.

Dr. Corruccini schreibt zusammenfassend: 2

Mit den Ergebnissen der Studie kann man zwei weit verbreiteten Verallgemeinerungen entgegen treten, nämlich dass ein unvollkommener Zahnreihenschluss nicht unbedingt unnormal ist, und dass der Fehlbiss genetisch bedingt ist, weswegen eine vorbeugende Therapie im strengen Sinne unmöglich ist. Kulturübergreifende Fakten widerlegen die Ansicht, dass eine erhebliche Variation im Zahnreihenschluss (Fehlbiss) unausweichlich oder normal ist. Vielmehr ist es eine Abweichung von modernen, städtischen Bevölkerungsgruppen. Desweiteren vollzieht sich der Übergang von einem vorwiegend guten Zahnreihenschluss zu einem vorwiegend schlechten Zahnreihenschluss regelmäßig innerhalb ein oder zwei Generationen in den vorliegenden (und anderen) Bevölkerungsgruppen. Das widerspricht den Argumenten, dass ein hohes Aufkommen an Malokklusion der Genetik zuzuschreiben ist.

Zusammenfassung

  • Das gesellschaftliche Auftauchen eines fehlerhaften Zahnreihenschlusses (Fehlbiss bzw. Malokklusion) geht einher mit der Aneignung einer modernen Ernährung. Daher entsteht diese Zivilisationskrankheit innerhalb ein oder zwei Generationen.

Wo haben wir das her?

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  1. An Epidemiologic Transition in Dental Occlusion in World Populations, Am J. Orthod. 86(5):419
  2. Übersetzung von mir.

2 Gedanken zu „Fehlbiss: Zivilisationskrankheit. Teil 1“

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